Pygmalion-Effekt - Objektbezogene und relationale Begriffe
Die bisher aufgezeigten Beispiele und Analogien mögen recht nützlich sein, dienen sie doch zur Veranschaulichung, ansonsten nur sehr abstrakt darstellbarer, Zusammenhänge. Doch werden wir jetzt - auf
begrifflicher Ebene - klären, was ein Stuhl und die Zeit nicht
gemeinsam haben. (Das war uns hoffentlich in diesem Text gelungen.) Dennoch möchte ich es noch etwas allgemeiner und geringfügig „wissenschaftlicher“ formulieren. Der Begriff „Stuhl“ beschreibt ein Objekt bzw. eine Klasse von Objekten mit bestimmten Eigenschaften. Welche das sind, setzen ich als bekannt voraus. Der Zeitbegriff jedoch bildet objektiv reale Beziehungen ab zwischen Prozessen objektiv realer Systeme.
Darauf kommt es an: Wir müssen unterscheiden zwischen „objektbezogenen“ und „relationalen“ Begriffen. Problematisch wird es, werden relationale Begriffskonstruktionen selbst als Abbilder
realer Objekte betrachtet. Diese Fehlerquelle bezeichnete ich in diesem Text als „Materialisation von Abstraktionen“. Die Konfusion also beginnt dann, werden Relationen zu Objekten! Objektbezogene
Begriffe sind allgemein bekannt. Wir brauchen sicherlich keine weiteren aufzuzählen. Mit einigen der relationalen Begriffe befassten wir uns sehr ausführlich. Fassen wir trotzdem - unter Beachtung der
gerade formulierten Aussagen - einige Zusammenhänge wiederholenderweise zusammen:
- Der Zeitbegriff bildet auf allgemeine Weise die Relationen materieller Objekte und Prozesse ab, die mit Veränderung, Wiederholung und Nichtumkehrbarkeit beschrieben worden sind. Diese Beziehungen
wurden - und werden! - de facto zum „realen Objekt Zeit“ materialisiert.
- Der Raumbegriff dient der Darstellung der räumlichen Beziehungen materieller Objekte („Massepunkte“). Er aber wurde zur selbständigen Entität.
- Mit „Wechselwirkung“ drücken wir aus, dass kein Objekt ohne ein anderes existiert. Irgendwie hängt alles zusammen. Nichts gibt es, was sich diesem „allumfassenden Zusammenhang“
entziehen kann. Aus einer Form dieser Beziehungen wurden - ich ging mehrfach darauf ein - die Felder als reale materielle Wesenheiten.
(Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Ich verzichte darauf.) Dann aber haben wir noch den „objektiven Zufall“. Der „Zufall“ beschreibt ein Ereignis, welches eben „zufällig“ eintritt
und nicht „vorherbestimmt“ ist oder voraussagbar. Auch dieser Begriff beschreibt Beziehungen und keine Objekte. Und eigenartiger Weise blieb der Begriff das was er war: ein relationaler. Er wurde
nicht zum gleichberechtigten Widersacher der Zeit, nicht bestrebt, die durch den gesetzmäßigen zeitlichen Ablauf der Prozesse gegebene Ordnung zu zerstören, weil er als gleichberechtigtes - aber
antagonistisches - „Objekt Zufall“ neben dem „Objekt Zeit“ existiert. Niemand stellte die Frage, welche Eigenschaften der Zufall eigentlich habe. Der Zufall ist Eigenschaft, eine
Eigenschaft realer Prozesse. Gefragt höchstens wird danach, wieso es eigentlich zufällige Ereignisse gibt, wieso die objektiv-realen Prozesse nicht vollständig determiniert seien. (Dies ist ein sehr
interessantes Thema, welches nochmals aufgegriffen werden sollte.)
Was lernen wir daraus? - Wir haben uns mit drei Arten von Begriffen herumzuschlagen:
- Zum ersten sind es die objektbezogenen Begriffe als Abbilder realer materieller Gegebenheiten. (Auch hier ist zu beachten, wie bereits bemerkt, dass Begriffe erst über das Subjekt ihre
objektbezogene Bedeutung erlangen, und damit zum Ab-Bild werden.)
- Dann haben wir noch als zweite Kategorie die relationalen Begriffe kennengelernt, welche sich in zwei Untergruppen spalten lässt:
- Die eine Sorte von Relationen wird selbst zum Objekt und
- die andere bleibt das, was sie war, Ausdruck von Beziehungen der eigentlichen Objekte untereinander.
Aus sprachlicher Sicht ist die Tatsache interessant, dass einige der analysierten Begriffe mit substantivierten Adjektiven verbunden sind. Wenn ein Gegenstand warm
(Prädikat) ist, so ist die Wärme (Objekt, vormals Wärmestoff) daran schuld. Läuft ein Prozess in der und der zeitlichen Reihenfolge
(Relation) ab, so haben wir es mit der Zeit (Objekt) zu schaffen. Aus ganz bestimmten räumlichen
Anordnungen und Beziehungen (Relation) wird der Raum
(Objekt), ohne den es scheinbar nicht geht. (Hiermit wird keine Aussage über die Entstehung der Begriffe getroffen.)
Prädikate und Relationen werden zu Gegenständen.
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Die Relevanz der mit dieser Angelegenheit im Zusammenhang stehenden Probleme besteht in der Schwierigkeit, sich mit irrelevanten Fragen
herumschlagen zu müssen. Wie also lautete eine bereits an anderer Stelle sinngemäß gestellt Frage? „Welche Eigenschaften hat die Zeit?“ Die Zeit hat
keine Eigenschaften, sie ist Eigenschaft; sie repräsentiert eine Gruppe von Eigenschaften der sich verändernden Materie, welche im
subjektiven Zeitbegriff ihre - vom allgemeinen Geschehen herausgelöste - abstrahierende Reflexion findet. Der Zeitbegriff ist Ausdruck bestimmter Seiten der objektiv-realen Verhältnisse, aber nur und ausschließlich, aus unserer ganz besonderen Sicht,
geprägt von ganz bestimmten Beziehungen, in welche wir hineingeboren wurden. (Mit einigen dieser „ganz bestimmen Beziehungen“ beschäftigten wir
uns bereits. Andere Beziehungen werden noch Gegenstand weiterer Überlegungen sein.) Um zu zeigen, dass die hier dargelegten Gedanken alles andere als besonders neu einzustufen sind, wollen wir bei
Mach nachlesen (E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1926, Nachdruck: Darmstadt 1991, S. 141 ff.):
17. Wenn auch Begriffe keine bloßen Worte sind, sondern ihre Wurzeln in den
Tatsachen haben, muss man sich doch hüten, Begriffe und Tatsachen für gleichwertig zu halten, dieselben miteinander zu verwechseln. Aus solchen
Verwechslungen gehen ebenso schwere Irrtümer hervor, wie aus jenen der anschaulichen Vorstellungen mit Sinnesempfindungen, ja die ersteren sind
viel allgemeiner schädlich. Die Vorstellung ist ein Gebilde, an welchem die Bedürfnisse
des Einzelmenschen wesentlich mit gebaut haben, während die Begriffe, von den
intellektuellen Bedürfnissen der Gesamtmenschheit beeinflusst, das Gepräge der Kultur
ihrer Zeit tragen. ... 18. J. B. Stallo hat in ausführlicher Darstellung und in anderer
Form, unabhängig, im wesentlichen mit dem unmittelbar zuvor Gesagten übereinstimmende Gedanken dargelegt.*
*Fußnote Mach: J.B.Stallo, The Concepts and Theories of modern Physics. 1882 -
Deutsch unter dem Titel: Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Herausgegeben von H. Kleinpeter, mit einem Vorwort von E.Mach. Leipzig 1901. ...
Stallos Ausführungen lassen sich kurz zusammenfassen in folgenden Sätzen: 1. Das
Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen, wie sie an sich sind, sondern mit unseren
Gedankenvorstellung (Begriffen) von denselben. 2. Gegenstände sind uns lediglich
durch ihre Beziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Die Relativität ist also ein
notwendiges Prädikat der Gegenstände der (begrifflichen) Erkenntnis. 3. Ein
besonderer Denkakt schließt niemals die Gesamtheit aller erkennbaren Eigenschaften
eines Objektes in sich, sondern nur die zu einer besonderen Klasse gehörigen
Beziehungen. - Aus der Nichtbeachtung dieser Sätze gehen, wie Stallo weiter ausführt,
mehrere sehr verbreitete, natürliche, so zu sagen in unserer geistigen Organisation
begründete Irrtümer hervor. Als solche werden aufgezählt: 1. Jeder Begriff ist das
Gegenstück einer unterscheidbaren Realität; es gibt so viele Dinge, als es Begriffe gibt.
2. Die allgemeineren oder umfassenderen Begriffe und die ihnen entsprechenden
Realitäten sind früher da, als die weniger allgemeinen; die letzteren Begriffe und
Realitäten bilden oder entwickeln sich aus den ersteren durch Hinzufügen von
Merkmalen. 3. Die Aufeinanderfolge der Entstehung der Begriffe ist identisch mit der
Aufeinanderfolge der Entstehung der Dinge. 4. Die Dinge existieren unabhängig von ihren Beziehungen.
In der Entgegensetzung von Materie und Bewegung, Masse und Kraft als besondere
Realitäten sieht Stallo den ersten der bezeichneten Irrtümer, in der Hinzufügung der
Bewegung zur trägen Materie den zweiten. Betrachtet man aber das starre Atom als das
ursprünglich Existierende, aus dem alles abzuleiten ist, so unterliegt man der dritten der
bezeichneten Täuschungen. Die Eigenschaften der Gase sind in der Tat viel einfacher
als jene der Flüssigkeiten und starren Körper, ... Als Beispiele des vierten Fehlers behandelt Stallo die Hypostasierung [In diesem Text “Materialisation von Abstraktionen”
genannt, W. N.] von Raum und Zeit, wie sie namentlich in Newtons Lehre von dem absoluten Raum und der absoluten Zeit sich offenbart.
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Ich werde diese Aussagen nicht im einzelnen diskutieren, zumal wesentliche Seiten dieser “uralten Erkenntnisse” Gegenstand meiner bisherigen
Ausführungen waren. Und auch die Einordnung in bestehende philosophische Systeme soll nicht unsere Aufgabe sein. Leider ist es so, dass man
irgendwelche Aussagen dieser Art gern einem philosophische „Ismus“ zuordnet. Für denjenigen, der sich nicht vordergründig und ausschließlich mit
diesen Dingen befasst, wäre dies nach meiner Auffassung eher verwirrend denn hilfreich. Wir beschäftigen uns mit konkreten Problemen der Physik.
Und dabei bleiben wir auch. Und gerade bei einem solchen Vorhaben, ist es immer wieder interessant, sich mit Aussagen eines Ernst Mach auseinanderzusetzen.
Es sei dem Leser überlassen, Gemeinsamkeiten und auch Differenzen zu erkennen, wobei weniger die Übereinstimmung oder Divergenz im Detail,
als vielmehr bestimmte kritische Grundhaltungen interessieren sollten, die, wie ich zeigen konnte, erstens nicht neu und zweitens durchaus wichtig für
die Beurteilung des aktuellen Erkenntnisstandes in der Physik sind. Noch bemerkenswerter allerdings ist die Tatsache, dass erkenntnistheoretische
Überlegungen der genannten Art in der Physik noch nie eine wirklich bedeutende Rolle gespielt haben.
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